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Ayaan Hirsi Ali

Ayaan Hirsi Ali

niederländisch-amerikanische Politikerin und Autorin
Geburtstag: 13. November 1969 Mogadischu (Somalia)
Nation: Niederlande, Vereinigte Staaten von Amerika (USA)

Internationales Biographisches Archiv 31/2021 vom 3. August 2021 (fl)
Ergänzt um Nachrichten durch MA-Journal bis KW 14/2022


Blick in die Presse

Herkunft

Ayaan Hirsi Ali (eigtl. Ayaan Hirsi Magan) wurde am 13. Nov. 1969 in der somalischen Hauptstadt Mogadischu als Tochter des Lehrers und Politikers Hirsi Magan Isse (1935-2008) geboren. Ihre Mutter Asha war die vierte Frau des Vaters, der einerseits ein strenggläubiger Muslim war und andererseits ein fortschrittlicher Politiker und Gegner des diktatorischen Regierungschefs Mohammed Siad Barre (1969-1991). Nachdem der Vater ab 1972 einige Jahre im Gefängnis verbracht hatte, folgte ihm die Familie (vier Frauen, fünf Töchter und ein Sohn) ins politische Exil, zunächst nach Saudi-Arabien, später nach Äthiopien und 1980 nach Kenia.

Ausbildung

Auf Drängen ihrer Großmutter und gegen den Willen der Eltern wurde H. mit fünf Jahren ohne Betäubung nach islamisch-afrikanischer Tradition beschnitten. In Kenia erhielt sie eine vom UN-Flüchtlingshilfswerk bezahlte Ausbildung in einer muslimischen Mädchenschule. Als sie den begleitenden Koranunterricht eines Tages verweigerte, brach ihr der Lehrer bei der körperlichen Züchtigung den Schädel, wie sie mehrfach berichtete. An der englischsprachigen Muslim Girls' Secondary School erfuhr H. eine orthodoxe islamische Erziehung, wozu ihren Angaben nach gehörte, mehrfach täglich für die Ausrottung der Juden zu beten und Ungläubige zu verstoßen. Anschließend absolvierte sie eine Ausbildung als Sekretärin, durfte jedoch auf Anweisung ihrer Mutter diesen Beruf nicht ausüben. Später, als Asylbewerberin in den Niederlanden, begann H. nach einer einjährigen Ausbildung an der Akademie für Sozialstudien "De Horst" in Driebergen 1995 ein Studium an der Universität Leiden, wo sie 2000 den Mastergrad in Politikwissenschaft erlangte.

Wirken

Flucht in die NiederlandeDie laut H. von ihrem Vater geplante Zwangsheirat mit einem in Kanada lebenden Cousin brachte 1992 eine entscheidende Wendung in ihrem Leben. Auf ihrer Reise nach Kanada nutzte sie einen Zwischenstopp in Deutschland, um sich in die Niederlande abzusetzen, wo sie – allerdings unter Angabe eines falschen Namensteils (Ali) und eines falschen Geburtsjahrs (1967), wie sie selbst einräumte – Asyl beantragte und erhielt. 1997 wurde sie niederländische Staatsbürgerin. Anfangs schlug sie sich mit Jobs als Putzfrau oder Postsortiererin durch, lernte schnell die Landessprache und arbeitete dann als Übersetzerin für Justiz-, Sozial- und Einwanderungsbehörden, u. a. in Frauenhäusern und Abtreibungskliniken. In dieser Zeit brach sie mit dem Islam, wurde zur Atheistin und nahm dabei den Bruch mit ihrer Familie in Kauf. 2001-2002 arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Wiardi-Beckman-Stiftung, dem wissenschaftlichen Büro der sozialdemokratischen Partij van de Arbeid (PvdA).

Einzug ins Parlament 2003H. wechselte noch 2002 von der PvdA zur rechtsliberalen Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD), die nach der Ermordung des mit populistischen Parolen gegen Überfremdung bekannt gewordenen Politikers Pim Fortuyn im Mai 2002 die Migrantin als politisches Aushängeschild umwarb und ihr einen sicheren Listenplatz für die niederländische Parlamentswahl im Jan. 2003 einräumte. Seit 2002 war H. mit ihrer scharfen Kritik an der islamischen Kultur häufig in den Medien präsent. In ihrem Buchdebüt "De Zoontjesfabriek" (2002; dt. Die Söhnefabrik) gestand sie ein, dass die Chance, ihre Ideen ins Parlament zu bringen, ihr den parteipolitischen Wechsel nahegelegt habe. H. zog als VVD-Abgeordnete in die Zweite Parlamentskammer (Unterhaus) ein und wurde Fraktionssprecherin für Integration.

Islamkritisches EngagementH. kritisierte den Islam als rückständig und repressiv gegenüber Frauen; er sei mit der liberalen Gesellschaft, die sich im Gefolge der Aufklärung herausgebildet habe, "nicht vereinbar" und erkenne individuelle Rechte nicht als Wert an sich an (FAZ-Interview, 4.10.2006). Sie forderte ein "Ende des Wegsehens im Namen des Multikulturalismus", wenn demokratische Werte und Menschenrechte missachtet würden. Wer sich nicht integrieren wolle, müsse das Land verlassen. Frauen sollten nicht mehr nur "Söhnefabriken" sein, sondern ein Recht auf Bildung und Selbstbestimmung haben. Bisweilen schlug sie provokante Töne an, etwa als sie in einem Interview 2003 den Propheten Mohammed als einen nach westlichen Maßstäben "perversen Mann" und "Tyrannen" bezeichnete. Ihre Attacken gegen eine überzogene Toleranz und fehlgeschlagene Integrationspolitik brachten ihr nicht nur Ablehnung und Anzeigen von muslimischer Seite ein, sondern auch skeptische Wertungen aus dem eigenen politischen Lager. Als H. Morddrohungen erhielt, wurde sie unter permanenten Polizeischutz gestellt.

International bekannt wurde H. als Drehbuchautorin von Theo van Goghs provokativem Kurzfilm "Submission, Part I" (2004), der die Unterdrückung muslimischer Frauen deutlich anprangerte. "Die Bilder von nackten Musliminnen, deren symbolisch verhüllte Körper mit Koranzitaten bemalt sind, versetzten viele marokkanische und türkische Einwanderer in Rage", schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung (19.1.2005). Im Nov. 2004 ermordete ein islamistischer Fanatiker van Gogh und heftete ihm einen Bekennerbrief mit Todesdrohungen gegen H. an den Leib. Etwas später wurde sie mit einem Militärflugzeug in die USA gebracht, tauchte aber Anfang 2005 wieder in den Niederlanden auf. In TV-Interviews regte sie nunmehr an, Islamkritiker sollten eine gemeinsame Position formulieren und deutlich machen, dass sie nicht gegen den Islam generell seien, sondern nur gegen militante Auswüchse vorgehen wollten. Zudem schlug sie vor, dass Niederländer Patenschaften für Kinder ausländischer Herkunft übernehmen, um die Ghettobildung durch Schulen mit hohem Migrantenanteil aufzubrechen. Reißenden Absatz fand H.s Essaysammlung "Ich klage an: Plädoyer für die Befreiung der muslimischen Frauen" (2004; dt. 2005), die in zahlreichen Übersetzungen erschien. Ein internationaler Bestseller wurde auch ihre Autobiographie "Mijn Vrijheid" (2006; dt. "Mein Leben, meine Freiheit"). Bis 2007 stellte H. die Drehbuchfortsetzung "Submission II" fertig, die sich mit der diskriminierenden Haltung des Islam zur Homosexualität befasste, als Film aber vorerst unveröffentlicht blieb.

Kontroversen um Staatsbürgerschaft und PersonenschutzGroßes Aufsehen erregte im Mai 2006 eine holländische Fernsehreportage über H. mit vermeintlich neuen Fakten über ihr Asylverfahren, bei dem sie falsche Angaben gemacht habe. Daraufhin beantragte die Integrationsministerin Rita Verdonk (VVD) eine Annullierung der Einbürgerung. Es folgte ein erbitterter politischer Streit, der H. veranlasste, ihren ohnehin geplanten Umzug in die USA zu beschleunigen. Noch im Mai 2006 legte sie ihr Abgeordnetenmandat nieder. Zwar wurde die drohende Ausbürgerung im Folgemonat zurückgenommen, der Vorgang führte aber zum Rücktritt Verdonks sowie der Regierung des Premiers Jan Peter Balkenende (CDA).

2006 unterzeichnete H. mit weiteren Intellektuellen (u. a. Salman Rushdie) das "Manifest der 12" gegen den Islamismus als "neue weltweite totalitäre Bedrohung". 2007 gründete sie die AHA Foundation, die Mädchen und Frauen in den USA vor menschenrechtsverachtenden Praktiken wie Kinder- und Zwangsheirat, Genitalverstümmelung und sog. Ehrenmorden schützen sollte. Im Frühjahr 2007 stand sie auch im Zentrum einer internationalen Kulturdebatte um den Islam in Europa, die sich daran entzündete, dass der britische Historiker Timothy Garton Ash H. als "Fundamentalistin der Aufklärung" bezeichnet hatte.

Im Okt. 2007 kehrte H. in die Niederlande zurück, nachdem ihr die dortige Regierung mitgeteilt hatte, dass man die Kosten für ihren Personenschutz in den USA nicht weiter übernehme. Über das Vorgehen der Regierung in Den Haag entbrannte erneut eine heftige innenpolitische Debatte; bedeutende Autoren wie Leon de Winter, Sam Harris und Salman Rushdie solidarisierten sich mit H., die in den Medien zum "Testfall für die Haltung Europas zum Islam" erklärt wurde (SZ, 11.10.2007), als u. a. auch ein EU-Fonds für von religiösen Fanatikern bedrohte Menschen diskutiert wurde. H. beschritt schließlich den Weg, private Unterstützer zu finden, um für ihren Schutz zahlen zu können.

Wirken in den USANachdem H. eine GreenCard erhalten hatte, siedelte sie 2007 endgültig in die USA über und erlangte 2013 die US-Staatsbürgerschaft. Sie arbeitete in neokonservativen Denkfabriken wie dem American Enterprise Institute in Washington/D.C. und der Hoover Institution in Stanford. Zudem wirkte sie 2016-2019 als Senior Fellow in einem Diplomatieforschungsprojekt am Belfer Center (Harvard Kennedy School) mit und gehörte dem Council on Foreign Relations an.

In den USA erschien 2010 ihr Buch "Nomad" (dt. "Ich bin eine Nomadin"), eine sehr persönliche Schilderung ihres Kampfes gegen den menschenverachtenden Umgang mit Frauen im Islam. Als die Terrormiliz Islamischer Staat 2014 weite Gebiete in den Bürgerkriegsländern Syrien und Irak eroberte und den Terror ab 2015 auch in westliche Metropolen trug, wurde H. nicht müde zu betonen, dass islamischer Extremismus sehr wohl etwas mit dem Islam als Religion zu tun habe. In ihrem Buch "Heretic" (2015; dt. "Reformiert euch!") forderte sie eine historisch-kritische Interpretation des Koran, ja letztlich eine "Reformation" ähnlich der lutherischen im Christentum, die zentrale Ideen des Islam hinterfragt, wie etwa die Scharia (das islamische Recht) oder den Dschihad (heiligen Krieg). Anders als viele Intellektuelle im Westen sah sie in der sog. "Arabellion", der politischen Aufstandsbewegung in arabischen Ländern, die Ende 2010 in Nordafrika begann, durchaus Anlass zur Hoffnung, dass islamische Gesellschaften das Potenzial zur Erneuerung hätten. Vom Westen wünschte sie sich mehr Unterstützung für islamkritische Reformkräfte und eine Abkehr vom "Kulturrelativismus", erfuhr aber auch Kritik von reformorientierten Muslimen wie Mouhanad Khorchide, der ihr in mancher Hinsicht zu "pauschale" Aussagen vorhielt und einen theologischen Diskurs vermisste (Cicero, 7/2015).

Die Rekordzuwanderung nach Europa 2015/2016 (sog. Flüchtlingskrise) war der Anlass für ein Buch, mit dem H. 2021 erneut polarisierte. "Prey" (dt. "Beute") lautete der Titel ihrer Streitschrift, die Zusammenhänge zwischen der verstärkten Zuwanderung aus muslimischen Ländern und einer zunehmenden Bedrohung westlicher Frauenrechte konstatierte und die Aufnahmeländer davor warnte, die tief verankerte Frauenverachtung in islamisch-patriarchalischen Kulturkreisen zu ignorieren, die das weibliche Geschlecht "zur Ware, zum Ding, zur Beute" mache (vgl. WELT, 19.4.2021). Während sie dieses heikle Thema erklärtermaßen nicht den Rechtspopulisten überlassen wollte, waren es v. a. ihre Forderungen nach harten Maßnahmen wie Asylrechtsverschärfungen und konsequenten Abschiebungen von Straftätern, die Kritik provozierten.

Familie

H. heiratete 2011 den britischen Historiker und Publizisten Niall Ferguson. Im selben Jahr wurde der Sohn Thomas geboren, einen weiteren Sohn bekam das Paar 2017. Neben ihrer Muttersprache Somali spricht H. Arabisch, Amharisch, Swahili, Englisch und Niederländisch.

Werke

Veröffentlichungen u. a.: Bücher: "De Zoontjesfabriek" (02), "De Maagdenkooi" (04; dt. 05, "Ich klage an: Plädoyer für die Befreiung der muslimischen Frauen"), "Mijn Vrijheid" (06; dt. "Mein Leben, meine Freiheit"), "Adan & Eva" (09; Kinderb.), "Nomad: From Islam to America" (10; dt. "Ich bin eine Nomadin: Mein Leben für die Freiheit der Frauen"), "Heretic" (15; dt. "Reformiert euch! Warum der Islam sich ändern muss"), "Prey" (21; dt. "Beute: Warum muslimische Einwanderung westliche Frauenrechte bedroht"). Drehbücher: "Submission, Part I" (04), "Submission II" (07).

Auszeichnungen

Auszeichnungen u. a.: Prijs voor de Vrijheid/Nova Civitas (03), Demokratiepreis d. schwed. Folkpartiet liberalerna (05), Freiheitspreis d. dän. Venstre-Partei (05), Liste "100 Most Influential People"/TIME (05), Kasseler Bürgerpreis "Glas der Vernunft" (06), Anisfield-Wolf Book Award (08), Prix Simone de Beauvoir (08), Richard Dawkins Prize (08), Axel-Springer-Ehrenpreis (12), Lantos Human Rights Prize (15), Philip Merrill Award (16), Oxi Day Courage Award (17).

April 2022: Ayaan Hirsi Ali wird der mit 20.000 sfr. (rd. 19.500 Euro) dotierte Frank-Schirrmacher-Preis für herausragende Leistungen zum Verständnis des Zeitgeschehens zugesprochen.

Adresse

c/o Penguin Random House Verlagsgruppe, Neumarkter Str. 28, 81673 München, Internet: www.penguinrandomhouse.de

c/o The AHA Foundation, 130 7th Avenue, Suite 236, New York, NY 10011, U.S.A., E-Mail: info@theahafoundation.org, Internet: www.theahafoundation.org



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