Hervé de Charette de la Contrie
Geburtstag: |
|
Nation: |
|
Geburtstag: |
|
Nation: |
|
Internationales Biographisches Archiv
Ergänzt um Nachrichten durch MA-Journal bis KW
Hervé (Marie Joseph) de Charette de la Contrie wurde am 30. Juli 1938 in Paris geboren. Sein Vater war in der Versicherungsbranche tätig. Zu seinen Vorfahren gehört François Athanase de Charette de la Contrie, einer der royalistischen Offiziere und Anführer des Bauernaufstandes in der Vendée, der 1796 von den Republikanern gefangengenommen und erschossen wurde. Seine Kindheit verbrachte de Ch. im Département Maine-et-Loire.
Nach dem Cours Saint-Louis besuchte de Ch. in Paris die École des Hautes Études Commerciales (HEC) und das Institut d'Études Politiques (IEP), bevor er von 1964 bis 1966 an der renommierten Eliteschule École Nationale d'Administration (ENA) studierte. Seine Laufbahn als hoher Staatsdiener war mit dieser Ausbildung vorgezeichnet.
Im Juni 1966 trat de Ch. als Beamter des Staatsrates in den öffentlichen Dienst ein, um 1969 bereits zum stellv. Generalsekretär des Staatsrates aufzusteigen. Er blieb dies bis 1973 und wirkte dort anschließend als Vortragender Rat. Zudem ernannte ihn 1973 Sozialminister Georges Gorse zu seinem Berater, als der er sich den Ruf eines "homme de dossiers", eines Sachkenners, erwarb. Nachdem im Mai 1974 Valéry Giscard d'Estaing Staatspräsident Georges Pompidou und Jacques Chirac Premierminister Pierre Messmer in ihren Ämtern abgelöst hatten, wechselte de Ch. als Kabinettschef zu Paul Dijoud, dem Staatssekretär für Einwanderungsfragen. Im Nov. 1974 machte er durch einen Bericht über die Einwanderung in Frankreich Giscard auf sich aufmerksam, dem er politisch und persönlich immer näher kam, um nach wenigen Jahren einer der engsten Vertrauten des Präsidenten zu werden. 1977 warb ihn Giscard mit Erfolg in den Parti Républicain (PR), der im Mai des Jahres durch den Zusammenschluß der Fédération Nationale des Républicains Indépendants (FNRI) mit drei kleineren giscardistischen Parteien gegründet worden war. De Ch. wurde zum Vorsitzenden des PR-Verteidigungsausschusses, 1978 zum Délégué général der Partei und bereits 1979 zu deren stellv. Generalsekretär gewählt. 1978 formierten PR und andere Parteien und Gruppierungen sich zur von Giscard geführten Union pour la Démocratie Française (UDF), einem lockeren Bündnis, das seither die liberale Machtbasis zur Unterstützung nichtgaullistischer Mehrheitskandidaten bildet.
Nachdem de Ch., seit 1976 auch als Rechtsberater beim Etablissement Public d'Aménagement de la Défense (EPAD) tätig, von 1976 bis 1978 das Kabinett von Arbeitsminister Christian Beullac in Raymond Barres Regierung geleitet hatte, übernahm er 1978 die Führung des Office national de l'Immigration (bis 1980). Im gleichen Jahr wurde er zudem "Chargé de mission" von Außenhandelsminister Jean-François Deniau in Barres zweitem Kabinett. 1979 wurde ihm zusätzlich die Leitung der SONACOTRA übertragen, eines öffentlichen Unternehmens, das damals Wohnungen für 25.000 Einwanderer sowie - über fünf regionale Tochtergesellschaften - 75.000 Sozialwohnungen verwaltete. Nach der Wahl von François Mitterrand zum Staatspräsidenten und dem Amtsantritt des sozialistischen Premierministers Pierre Mauroy im Mai 1981 verlor auch er seine öffentlichen Ämter, kehrte 1982 aber als Berichterstatter in den Staatsrat zurück.
Als es im März 1986, nach den Wahlen zur Nationalversammlung, zur ersten Kohabitationsregierung (d. h. "Ehe" zwischen bürgerlichem Kabinett und sozialistischem Staatspräsidenten) kam und Jacques Chirac vom gaullistischen Rassemblement pour la République (RPR) im Bündnis mit der UDF Regierungschef wurde, wurde de Ch. zum Beigeordneten Minister (Ministre délégué) für Öffentlichen Dienst und Wirtschaftsplanung berufen. Nach ersten vergeblichen Versuchen war es ihm zudem gelungen, im burgundischen Département Nièvre, der einstigen Hochburg Mitterrands, in die Nationalversammlung gewählt zu werden. Zwei Jahre später, bei den Parlamentswahlen am 5. Juni 1988 (erster Wahlgang), sicherte er sein Mandat als UDF-Abgeordneter in Angers Ouest, dem 6. Wahlkreis von Maine-et-Loire, Nachbar-Département der Vendée an der Atlantikküste. Im Jahr darauf gelang es ihm auch, ein seit langem verfolgtes Ziel zu erreichen und Bürgermeister der 2.600 Einwohner zählenden, in seinem Wahlkreis liegenden Gemeinde Saint-Florent-le-Vieil zu werden. Dort, so Beobachter, erinnere man sich seines Vorfahren besonders gern und verzichte - wegen der Verwüstung der Vendée vor 200 Jahren - noch immer auf die Feiern zum 14. Juli.
Mit den Wahlen im Juni 1988 und der Rückkehr der Sozialisten in die Regierung endete de Ch.s Regierungsamt. 1989 übernahm er als Délégué général die Führung der exklusiven Clubs Perspectives et Réalités (P et R), die - Mitglieder des UDF-Bündnisses - 1965 von Giscard gegründet worden waren und 30 Jahre später mit insgesamt ca. 60.000 Anhängern 210 örtliche Niederlassungen unterhielten. 1991 wurde er in dieser Eigenschaft UDF-Vizepräsident. Im Parlament gehörte er eine Zeitlang dem Verteidigungsausschuß an.
Mit der zweiten Kohabitationsregierung unter Edouard Balladur kehrte de Ch., der 1992 auch Vizepräsident des Regionalrates des Pays de la Loire geworden war, im März 1993 als Wohnungsbauminister ins Kabinett zurück. Als Abgeordneter von Maine-et-Loire war er mit über 58 Prozent der Stimmen bestätigt worden. Zu seinen Prioritäten als Minister gehörte es fortan, den Plan von jährlich 100.000 neuen Wohnungen zu gemäßigten Mietpreisen (habitations à loyer modéré - HLM) zu realisieren.
Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen am 23. April und 7. Mai 1995 ergriff de Ch. frühzeitig Partei für Chirac, den er einst als "Monsieur Muscle" geschmäht hatte. Dies machte ihm zahlreiche Feinde innerhalb des PR, der - von ihm als "Versammlung von Clans" ebenfalls verächtlich gemacht - mehrheitlich hinter Balladur stand. Er habe, meinten manche, seine Meinung nur geändert, um nach der Wahl einen Regierungsposten zu ergattern. Tatsächlich wurde er nach dem Wahlsieg Chiracs bei der Bildung einer neuen RPR/UDF-Regierung unter dem früheren Außenminister Alain Juppé (RPR) am 18. Mai 1995 zu Juppés Amtsnachfolger am Quai d'Orsay berufen und schien damit ebenfalls bewiesen zu haben, daß in Juppés Kabinett die EU-Kritiker nicht das große Wort führten.
Der im Ruf eines Arbeitstiers und gescheiten Kopfes stehende de Ch. werde, prophezeite DIE ZEIT, "wohl kein machtbewußter Gestalter der französischen Außenpolitik sein, eher ein feinsinniger Chefdiplomat (und) kluger Taktiker". Außerdem könne er gut mit Leuten verschiedener Couleur umgehen, selbst Mitterrand habe ihn als Gesprächspartner sehr geschätzt (ZEIT, 26.5.1995). De Ch. selbst machte deutlich, daß er dazu beitragen wolle, die französische Politik wieder populär zu machen. "Unsere Parteien", sagte er, "sind nur noch träge Apparate - zu nichts anderem gut, als Versammlungen abzuhalten und Plakate zu kleben" (Tagesspiegel, 6.7.1995). Seine "Clubs" wandelte er am 1. Juli 1995 in den Parti Populaire pour la Démocratie Française (PPDF) um und übernahm - gemeinsam mit Jean-Pierre Raffarin - wieder die Führung. Die Transformierung der Organisation solle, hieß es, sowohl die Durchsetzungskraft in der Regierung Juppé als auch den Einfluß innerhalb der UDF vergrößern helfen. Eine Aufhebung der Doppelmitgliedschaft zwischen RP und PPDF lehnte de Ch. ab.
Die zweite Jahreshälfte 1995 war durch eine zunehmende Verstimmung zwischen Frankreich und seinen EU-Partnern gekennzeichnet, die auch die vielbeschworene Harmonie zwischen Bonn und Paris überschattete. Die von de Ch. als "Heuchelei" beklagte und von Juppé mit abfälligen Bemerkungen erwiderte Kritik an der Wiederaufnahme der französischen Atomversuche, Unzufriedenheit über das Schengener Abkommen und die Diskrepanz zwischen dem deutschen Konzept einer politischen Union als unabdingbare Ergänzung der Wirtschafts- und Währungsunion und der französischen Präferenz für ein föderales Europa und die Beibehaltung einer nationalen Außenpolitik sorgten für Mißtöne. Im Dez. 1995 hob de Ch. in einem Figaro-Interview zudem den Anspruch einer globalen Mission der französischen Außenpolitik hervor, die die kleineren Mitgliedsstaaten der EU und die neutralen Länder auf "Nachbarschaftspolitik" beschränke.
Nach seiner Visite in Beijing im Febr. 1996, die, so die Neue Zürcher Zeitung, wieder für "sino-französische Minnestimmung" sorgte (NZZ, 8.2.1996), bemühte de Ch. sich im April 1996 um eine Vermittlung im Konflikt zwischen Israel und der libanesischen Hisbollah, stieß aber mit seinem "großspurigen Stil" (Hbl., 19.4.1996) auf wenig Gegenliebe bei den europäischen Partnern. Im Juli 1996 stattete er, als erster französischer Außenminister seit drei Jahren, Algerien einen Besuch ab. Zwei Monate später unterzeichneten er und seine Amtskollegen von den übrigen vier offiziellen Atommächten in New York den Vertrag über ein weltweites Verbot von Atomtests, der am 10. Sept. 1996 von der UN-Vollversammlung verabschiedet worden war.
Der Eklat zwischen der französischen Regierung und dem Europaparlament (EP) in Straßburg im Febr. 1997 bildete das letzte herausragende Ereignis in de Ch.s Amtszeit als Außenminister. In scharfer Form wies er eine vom Parlament verabschiedete Resolution gegen die von Innenminister Jean-Louis Debré (RPR) geplante Verschärfung des Ausländergesetzes zurück, die drei französische Abgeordnete eingebracht hatten. Das EP kümmere sich um Angelegenheiten, die es nichts angingen, meinte de Ch., worauf EP-Präsident José Maria Gil-Robles aus Protest ein Treffen mit ihm absagte.
Die von Präsident Chirac angesetzten vorzeitigen Wahlen zur Nationalversammlung am 25. Mai und 1. Juni 1997 brachten den von Lionel Jospin geführten Parti Socialiste (PS) mit 241 (bei zuvor 54) Sitzen als triumphalen Sieger hervor, während UDF und RPR mit zusammen nur noch 242 Mandaten die schwerste Niederlage in der Geschichte der Fünften Republik erlitten und knapp die Hälfte ihrer satten 460-Sitze-Mehrheit im 577 Abgeordnete umfassenden Parlament einbüßten. In Jospins linker Koalitionsregierung trat am 4. Juni 1997 Hubert Védrine (PS) die Amtsnachfolge von de Ch. an, der sich in seinem Wahlkreis Angers Ouest im zweiten Wahlgang mit 62,1 Prozent hatte behaupten können, nachdem er sein Mandat 1993 nach der Ernennung zum Regierungsmitglied niedergelegt hatte. Im gleichen Monat noch benannte sich der Parti Republicain auf seinem Parteitag im Pariser Vorort Levallois in Démocratie Libérale um und wählte den ehemaligen Wirtschafts- und Finanzminister Alain Madelin zu seinem neuen Vorsitzenden.
26. März 1998: Das rechtsliberale französische Parteienbündnis "Union pour la démocratie française" (UDF) steht vor einer Zerreißprobe. Der ehemalige Bildungsminister
De Ch. ist seit 1980 mit Michèle Delor verheiratet. Er ist Vater von fünf Kindern, wovon drei aus seiner ersten Ehe stammen. Der Amateur-Astronom liebt Bonmots und ist für seine zurückhaltende, bescheidene Art bekannt. Kulturell sehr interessiert, rief er 1989 in seiner Stadt Saint-Florent-le-Vieil das Festival de Musique et de Danse ins Leben, dessen Leiter er seither ist. Im Sommer 1996 stand das Festival unter dem Motto "Asie-Occident".
Veröffentlichung u. a.: "Ouragan sur la République" (95).
8 rue Emile Acollas, F-75007 Paris