MUNZINGER Wissen, das zählt | Zurück zur Startseite
Wissen, das zählt.


MUNZINGER Personen

Paddy Ashdown

britischer Politiker; Hoher Repräsentant für Bosnien-Herzegowina (2002-2006)
Geburtstag: 27. Februar 1941 Neu Delhi (Indien)
Todestag: 22. Dezember 2018
Nation: Großbritannien

Internationales Biographisches Archiv 13/2019 vom 26. März 2019 (sb)


Blick in die Presse

Herkunft

Jeremy John Durham ("Paddy") Ashdown – ab 2001 Lord Ashdown of Norton-Sub-Hamdon - wurde 1941 in Neu Delhi als ältestes von sieben Kindern geboren. Sein Vater, ein indischer Oberst, quittierte 1947 seinen Dienst in der Kolonialverwaltung. Die Familie übersiedelte in die irische Heimat der Mutter. A. wuchs in Nordirland am Rande von Belfast auf. Die neu gegründete Schweinefarm des Vaters ging bald bankrott, und seine Eltern wanderten später nach Australien aus.

Ausbildung

A. besuchte die private Bedford School in England, wo er wegen seines irischen Akzents den Spitznamen "Paddy" erhielt, und meldete sich mit 18 Jahren bei den Royal Marines. Er wurde zum Nahkampfspezialisten ausgebildet, brachte es bis zum Captain und absolvierte schließlich ab 1967 - nach Einsätzen gegen indonesische Guerilleros im malaysischen Dschungel und im Fernen Osten - mit Auszeichnung ein Sprachenstudium (Mandarin) an der Universität Hongkong. 1970 kehrte er nach England zurück und übernahm ein Kommando in Belfast.

Wirken

Berufliche Anfänge und Einstieg in die Politik 1972 trat A. in den diplomatischen Dienst ein. Bis 1976 war er als Erster Sekretär der UN-Mission seines Landes in Genf tätig. Danach gab er seine diplomatische Karriere auf, um als Mitglied der Liberal Party einen Unterhaussitz anzustreben. Dies gelang ihm bei den Wahlen im Juni 1983, als Liberale und die Social Democratic Party (SDP), die sich von der Labour Party abgespaltet hatte, eine Allianz bildeten. Sie gewann zwar nur 4 % der Unterhaussitze, doch A. konnte das 73 Jahre lang von den Konservativen verteidigte Mandat für Yeovil erringen. Bis dahin hatte er als Manager bei Westland Helicopters und der Morlands-Tochterfirma Tescan sowie als Jugendsozialarbeiter im County Dorset gearbeitet und war zweimal erwerbslos gewesen.

Vorsitzender der Liberaldemokraten Nach A.s Einzug ins Unterhaus 1983 fungierte er bis 1986 als Fraktionssprecher. Nachdem die Unterhauswahlen vom Juni 1987 für die Allianz enttäuschend waren – die Partei bekam zwar 22,6 % der Wählerstimmen, aufgrund des Mehrheitswahlrechts aber nur 22 der 650 Sitze im Unterhaus - , kam es am 3. März 1988 zur Gründung der gemeinsamen Social and Liberal Democratic Party (SLDP). Am 28. Juli 1988 wurde A. mit großer Mehrheit zum Vorsitzenden der Partei gewählt. Im Okt. 1989 wählte die SLDP, die bei den Europawahlen mit 6,2 % der Stimmen eine herbe Niederlage hatte hinnehmen müssen, den kürzeren Namen Liberal Democrats (Libdems). Ihr Hauptziel war die Wiederherstellung des politischen Zentrums.

Der Zugewinn von mehr als 400 Sitzen bei den Kommunalwahlen in England und Wales Anfang Mai 1991 wurde als persönlicher Triumph für A. gewertet. Der Erfolg bei den Kommunalwahlen setzte sich bei den Unterhauswahlen im April 1992 jedoch nicht fort. Zur allgemeinen Verblüffung gelang es den Konservativen trotz ihrer Ansehensverluste, ihre absolute Mehrheit zu sichern, während die Liberalen zwei Mandate einbüßten. A. musste den Traum eines Regierungswechsels begraben.

Von vielen bereits politisch abgeschrieben, schlugen die Libdems die über die Europapolitik zerstrittenen Konservativen bei Nachwahlen im Sommer 1993 spektakulär mit 35 % der Stimmen und stellten damit einen Nachkriegsrekord auf. Binnen eines Jahres war A., der überzeugte Befürworter der Europäischen Union, nach Umfragen zum erfolgreichsten Parteiführer im Königreich geworden.

Im Mai 1995 erlitten die Konservativen (Tories) bei Kommunalwahlen in England und Wales ihre größte Niederlage der Nachkriegsgeschichte, während die Libdems die Zahl der von ihnen kontrollierten Gemeinderäte um 14 auf 44 erhöhen konnten. Bei den Kommunalwahlen im Mai 1996 erlebten die Tories ein weiteres Desaster und verloren rund die Hälfte aller Stadt- und Gemeinderatssitze. Die Libdems gewannen 147 Sitze hinzu.

In der Endphase des Unterhauswahlkampfes 1997 griff A., der Mehrausgaben für Bildung und die Krankenversorgung forderte, die Labour Party von links an und trat für höhere Steuern und einen Beitritt zur europäischen Währungsunion ein. Bei der Wahl am 1. Mai 1997 errangen die Libdems mit 46 Wahlkreisen einen historischen Sieg, durch den sie die Zahl ihrer Mandate verdoppeln konnten. Seit 1935 hatte keine dritte Partei mehr so großes politisches Gewicht erlangt. Dank des triumphalen Sieges der Labour Party, die unter ihrem neuen Parteichef Tony Blair mit 418 Sitzen eine satte absolute Mehrheit errang, erfüllte sich A.s Ziel, die Konservativen aus der Regierung zu vertreiben. Die folgende Oppositionsarbeit von A.s Liberalen glich aber eher einer versteckten Koalition mit Labour, was zu anhaltender Kritik in den eigenen Reihen führte.

Mit der Ankündigung seines Rücktritts aus privaten Gründen im Jan.1999 überraschte A. die Öffentlichkeit. In Parteikreisen kursierte die Vermutung, A. sei der ständigen Kritik an seinem Kooperationskurs mit Labour überdrüssig geworden. Im Aug. 1999 trat Charles Kennedy A.s Nachfolge als Parteichef an. A. verzichtete bei den Unterhauswahlen am 7. Juni 2001 auf eine erneute Kandidatur.

Hoher Repräsentant für Bosnien-Herzegowina Am 27. Mai 2002 wurde A. auf Vorschlag der Europäischen Union zum neuen Hohen Repräsentanten für Bosnien-Herzegowina bestimmt. Damit wurde A., der bereits Ende 2000 als UN-Administrator für den Kosovo im Gespräch gewesen war, Nachfolger des österreichischen Diplomaten Wolfgang Petritsch.

Bereits Ende der 1980er Jahre hatte es in den Teilrepubliken des Vielvölkerstaats Jugoslawien Sezessionsbestrebungen gegeben, die 1991 zur Loslösung Sloweniens und Kroatiens führten. Der daraus resultierende Bürgerkrieg zog sich in Slowenien nur wenige Tage, in Kroatien bis 1993 hin. In Bosnien-Herzegowina, das sich im Feb. 1992 gegen den Widerstand der bosnischen Serben für unabhängig erklärt hatte, ging der Krieg bis 1994. Am 14. Dez. 1995 wurde das Dayton-Friedensabkommen unterzeichnet, das als Grundlage des international erstrebten Aufbaus eines unabhängigen multiethnischen Staates Bosnien-Herzegowina diente. Das Abkommen gab dem Staat eine neue Verfassung, wonach Bosnien-Herzegowina als ungeteilter Staat mit zentralen Organen (Präsidentschaft, Parlament, Regierung, Verfassungsgerichtshof, Zentralbank) bestehen blieb, aber in eine bosnisch-kroatische Föderation und eine Serbische Republik gegliedert wurde. Die Zentralbehörden behielten u. a. die Zuständigkeit für die Außen-, Außenhandels-, Zoll- und Währungspolitik, die zivile Koordination der Streitkräfte sowie das Budget des Gesamtstaates. Als höchste Instanz für die zivile Umsetzung des Dayton-Abkommens wurde ein mit umfassenden Vollmachten ausgestatteter Hoher Repräsentant der internationalen Gemeinschaft eingesetzt, der die politische Neuordnung und einen wirtschaftlichen Aufschwung vorantreiben sollte.

A. hatte sich seit dem von Kriegen begleiteten Zerfall Jugoslawiens Anfang der 1990er Jahre in der Region engagiert und sich nachdrücklich für ein frühes militärisches Eingreifen der internationalen Gemeinschaft zum Erhalt der staatlichen Einheit Bosnien-Herzegowinas eingesetzt. Als neuer Hoher Repräsentant der internationalen Staatengemeinschaft gewann A. innerhalb weniger Monate Ansehen bei der Bevölkerung, da er konsequent gegen korrupte Minister vorging. Als Hoher Repräsentant konnte A. Minister entlassen, gegen den Willen des Parlaments Gesetze ändern oder einführen, Medien verbieten oder Verfassungsänderungen vornehmen. Allein im ersten Amtsjahr erließ A. mehr als 80 Gesetze und Verfassungszusätze. Zunächst wurde A.s Vorgehen begrüßt, seine Machtfülle im Laufe der Zeit aber immer heftiger kritisiert.

Im Dez. 2002 verordnete A. eine Reform der Regierung. Der bosnische Ministerrat sollte demnach mit einem Vorsitzenden für vier Jahre arbeiten, anstatt den Vorsitz jährlich zwischen den Regierungsparteien zu wechseln. A.s Anweisung sorgte vor allem in der bosnisch-serbischen Bevölkerung für Missstimmung. Kritik von allen ethnischen Gruppen gab es im Sommer 2003, da A. immer wieder einheimische Politiker jeglicher Volkszugehörigkeit ohne konkrete Beweise für Vorwürfe von ihren Posten entfernen ließ. Zu spektakulären Entlassungen kam es im Juli 2004, als A. 60 Funktionäre des serbischen Teilstaates, darunter Parlamentspräsident Dragan Kalinic und Innenminister Zoran Djeric, ihrer Ämter enthob. Zudem fror A. die Bankkonten der Serbischen Demokratischen Partei ein. Der Grund war die nach A.s Auffassung mangelnde Kooperation der bosnischen Serbenrepublik mit dem Haager Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien. Als im Nov. 2004 erste Angeklagte des Kriegsverbrechertribunals im serbischen Landesteil festgenommen wurden, begrüßte A. die Entwicklung, drohte aber mit Konsequenzen, falls diese Aktivitäten nachlassen sollten.

Im März 2005 entließ A. den Kroaten Dragan Covic, neben einem Serben und einem Muslim einer der drei Repräsentanten im Staatspräsidium Bosnien-Herzegowinas, aus seinem Amt. Gegen Covic war Anklage wegen Korruption und Amtsmissbrauch erhoben worden. Die Entlassung Covics führte erneut zu scharfer Kritik an A.s Machtfülle. Die Internationale Balkan-Kommission empfahl im April 2005, A.s Posten abzuschaffen und dessen Aufgaben dem EU-Erweiterungskommissariat zu übertragen. Auch in der Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina schwanden die Sympathien für A., der politisch nur schleppend voran kam, weiter dahin. Im Sept. 2005 scheiterte auch die von A. geforderte Polizeireform, die die Polizei wie schon zuvor das Militär zur Aufgabe des Gesamtstaats machen sollte, an serbischem Widerstand. Die EU hatte die Reform zur Bedingung für die Aufnahme von Gesprächen über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen gemacht. Die Verhandlungen mit der EU wurden daraufhin zurückgestellt.

Im Dez. 2005 wählte der Friedensimplementierungsrat für Bosnien-Herzegowina, d. h. die Vertreter von rund 50 Staaten und internationalen Organisationen, die die Umsetzung der Friedensverträge von Dayton überwachten, den ehemaligen deutschen Postminister Christian Schwarz-Schilling zum Nachfolger A.s, dessen Amtszeit zum 1. Feb. 2006 endete. A. zog eine verhaltene Bilanz seines knapp vierjährigen Engagements. Er hinterließ ein Land, in dem er zwar viele Reformen angestoßen hatte, aber nur wenig davon umsetzen konnte.

Weitere Aktivitäten Im Jan. 2008 war A. als Leiter der UN-Friedensmission in Afghanistan im Gespräch. Er sollte die Nachfolge des Deutschen Tom Koenigs antreten, verzichtete aber selbst auf den Posten, nachdem die afghanische Regierung ihn überraschend abgelehnt hatte. 2010 ernannte die britische Regierung A. zum Katastrophen-Beauftragten. Bei den Parlamentswahlen 2015 leitete A. das Wahlkampfteam der Liberaldemokraten. Nach dem "Brexit"-Referendum vom 23. Juni 2016, bei dem sich die Mehrheit der Briten für einen Austritt aus der EU ausgesprochen hatte, gründete A. - Bekenner zum Internationalismus und "Liberaler durch und durch" (vgl. NZZ, 24.12.2018) - die Plattform "MoreUnited.uk", um die politische Mitte in Großbritannien zu stärken.

Familie

A. starb am 22. Dez. 2018 im Alter von 77 Jahren an Blasenkrebs. Er war seit 1961 mit Jane Courtenay verheiratet, hatte zwei Kinder, Simon und Katherine, sowie mehrere Enkelkinder. Er mochte Gartenarbeit, war Hobby-Kelterer und wanderte gern. Außerdem liebte er Opern (Puccini, Verdi). Er sprach mehrere Sprachen, u. a. fließend Hochchinesisch.

Werke

Veröffentlichungen: "Citizen's Britain: a Radical Agenda for the 1990s" (89), "Beyond Westminster" (94), "The Ashdown Diaries: Volume One 1988-1997" (00), "The Ashdown Diaries: Volume Two 1997-1999 (01), "Swords And Ploughshares: Bringing Peace to the 21st Century" (08), "A Fortunate Life" (10; Autobiographie).

Auszeichnungen

Ehrung: 2001 erhob Queen Elizabeth II. A. in den Adelsstand zum Lord Ashdown of Norton-Sub-Hamdon.



Die Biographie von Kenneth Arrow ist nur eine von über 40.000, die in unseren biographischen Datenbanken Personen, Sport und Pop verfügbar sind. Wöchentlich bringen wir neue Porträts, publizieren redaktionell überarbeitete Texte und aktualisieren darüberhinaus Hunderte von Biographien.
Unsere Datenbanken sind unverzichtbare Recherchequelle für Journalisten und Publizisten, wertvolle Informationsquelle für Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft, Grundausstattung für jede Bibliothek und unerschöpfliche Fundgrube für jeden, der mit den Zeitläuften und ihren Protagonisten Schritt halten will.



Lucene - Search engine library